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17 Jahre später –
Ausstellungsansichten

Feinkunst e.V. Hannover, 22. April – 2. Juli 2023

vorher wars konkreter

Male ich seit 2020 unnötige, fragwürdige Bilder in dieser für mich und viele andere so existentiellen Zeit? Sind es dann nicht auch wahre, somit gute, durch die Umstände geprägte, notwendige Bilder? Einige dieser Bilder zeige ich in „17 Jahre später“, meiner ersten Ausstellung in Hannover seit dem 2006 von Hannes Malte Mahler und Hartmut Stielow kuratierten Skulpturenprojekt „Neue Kunst in alten Gärten“.

Matten Vogel

It used to be more tangible

Have I been painting unnecessary, questionable pictures since 2020, in times which are so existential for me and many others? But aren’t these pictures then also shaped by their circumstances and thus essentially true, and good and necessary? Some of these works I’m showing in the retrospective “17 years later”. It is my first exhibition in Hanover since 2006, when I took part in the biannual sculpture project “Neue Kunst in alten Gärten” (New Art in Old Gardens), which was curated by Hannes Malte Mahler and Hartmut Stielow.

Matten Vogel

Malerei, die an der Zeit ist

Es wird kein Zufall sein, dass Matten Vogel sich gerade in der Pandemie-Phase der letzten drei Jahre in seinen Bildern Zeit und Zeitlichkeit widmet, haben doch Pandemie und Lockdown unser Zeitempfinden wissenschaftlich nachgewiesen auf den Kopf gestellt und unsere Orientierung in der vierten Dimension schwer irritiert. Matten Vogel geht mit dieser Irritation künstlerisch um und lässt die Zeit und ihre Paradoxien in seinen Arbeiten dieser Phase, die im feinkunstraum erstmals zusammen gezeigt werden, in unterschiedlichen Aspekten in Erscheinung treten.

„Anwesenheit“ heißt die Serie von hochformatigen Bildern, die unterschiedliche Konstellationen von roten, lila, grünen und grauen Quadraten auf weißem Grund zeigen. Was da als abstrakte Geometrie erscheint oder als rätselhaft aus dem Lot geratene Pixel-Graphik eines Tetris-Spiels, ist eine Art Kalendarium oder Diarium, in dem der Künstler seine Anwesenheit in seinem Atelier in Jüterbog, seine Schaffensphasen und damit auch die Arbeit an diesem Bild verzeichnet. Jedes ausgefüllte Quadrat steht für einen Tag im Atelier, die weißen Flächen stehen für die Zeit, in der Matten Vogel nicht im Atelier arbeitet und entsprechend auf dem Bild keine Quadrate malen kann. In „Anwesenheit“ wird die Präsenz des Malers zum Gegenstand, seine Gegenwart auf der Leinwand markiert und in dem Moment des Malens bereits zur Vergangenheit, so dass uns Betrachtenden die gewesene Präsenz des Künstlers aber auch seine ebenfalls vergangene Abwesenheit gewärtig werden.

Ganz anders die Serie der Kratzer-Bilder, die jeweils in einem radikalen Gestus die Präsenz des Künstlers zu zeigen scheinen, und doch in einer ganz anderen zeitlichen Folge entstanden sind, als sie es uns nahelegen. Die Spuren, die wir sehen, kommen nicht durch das schnelle Kratzen scharfer Gegenstände auf der Ölfarben-Oberfläche zustande. Am Anfang steht die Zeichnung, die Matten Vogel mit an den Fingern fixierten Bleistiften auf die Leinwand bringt. Fotografien dieser Werkzeughände oder Handwerkzeuge dokumentieren die Vorgehensweise. Danach bemalt der Künstler die Leinwand mit Ölfarbe, wobei er die Spuren dieser Zeichnung frei lässt, und so die Illusion von Beschädigungen der Farbschicht erzeugen. Vorher und Nachher, die wesentlichen Determinanten des Zeitlichen, werden listig vertauscht und das Gegenteil dessen, was wir annehmen, ist hier zu sehen: Nicht die schnelle Kratzbewegung, sondern das langsame und präzise Bemalen der Oberfläche.

Während des Arbeitsprozesses an den Kratzer-Bildern sind auf einer Schräge darunter kleinere grundierte Leinwände montiert, auf denen die zufällig herabfallenden Farbtropfen landen. „EddSmM - Entstehung durch die Schwerkraft meiner Malerei“ heißen diese Bilder, die Abbilder purer Zeitlichkeit sind. Denn die wesentliche Determinante in der Produktion ist neben Format, Grundierung und der ausgewählten Farbe des Kratzer-Bildes die Zeitspanne, die die Leinwände dem möglichen Herabfallen von Farbtropfen ausgesetzt sind.

In den Übermalungen der „Üm“-Serie wird ein anderer Aspekt von Zeitlichkeit zum Thema: Die Geschichtlichkeit, das Nacheinander von Gegenwarten, die zu Vergangenheiten werden und eine Grundierung für die nächstfolgende Gegenwart abgeben. In dem partizipativen Ausstellungsprojekt „Üm“ in der Burg Klempenow hat Matten Vogel 2021 rosa bemalte Leinwände ausgestellt, auf die die Besucher mit dicken Faserstiften zu malen oder zu schreiben aufgefordert sind. Alle zwei Tage werden die Besucher-Eingriffe wieder übermalt und neue Besucher-Kommentierungen folgen, bis der Prozess des Malens und Übermalens an sein vorab gesetztes Ende gekommen ist. Was wir heute sehen, ist also eine Schichtung aufeinander reagierender Schreib- und Malakte, die zwar zu unterschiedlichen Zeitpunkten durchgeführt, jedoch alle Auswirkungen auf das gegenwärtige Resultat haben und uns die Gegenwart als Palimpsest von Vergangenem veranschaulichen.

Der Angriff der Gegenwart auf die Vergangenheit ereignet sich in den „Ür Frustrationen“. „Ür“ steht für „Überrollen“. Ausgangspunkt sind ältere Bilder von Matten Vogel, die geometrische Figuren auf einer Fläche in kon-struktivistischer Präzision angeordnet zeigen. Unter dem Eindruck des russischen Angriffskriegs gegen die Ukraine lässt der Künstler seiner Frustration über den kriegerischen Akt in Europa freien Lauf, greift zur Farbrolle und bringt in großen groben Flächen Ölfarbe auf, wo vorher Rechtecke, Rauten und Quadrate in einem ausbalancierten Verhältnis schwebten. Matten Vogels Übermal-Aktion ist nicht nur ein privatistischer Akt der Wut- und Frustrationsentäußerung. Indem er seine konstruktivistischen Kompositionen derart grob überrollt, vollzieht er in Schichtungen malerisch nach, was sich historisch im Osten Europas ereignet: Das Niederwalzen einer Kultur.

Matten Vogel hat mit seinen Arbeiten aus der Pandemie-Phase Bilder geschaffen, die nicht nur in ihrem minimalistischen Konzeptualismus einen hohen ästhetischen Reiz haben, sondern uns als bildliches Nachdenken über Dimensionen des Zeitlichen reichlich philosophisches Futter anbieten. Darin ist er übrigens seinem Companion Hannes Malte Mahler nicht unähnlich, der uns in der Serie „Daily Performances“ an seinen Reflexionen über die Zeit teilhaben lässt. Doch davon ein andermal.

Stefan Becker

It’s about time

It’s hardly a coincidence that Matten Vogel has turned to time and temporality in his paint-ings during the pandemic phase of the last three years. After all, it has been scientifically proven that the pandemic and its lockdowns have upended our sense of time and severely impaired our orientation in the fourth dimension. Matten Vogel deals with this impairment in his art and lets time and its paradoxes mani- fest themselves in various facets. His recent works from this phase are exhibited together for the first time at feinkunst e.V.

“Anwesenheit” [“Presence”] is the title of a series of tall paintings showing different constellations of red, purple, green and grey squares on a white background. What might seem as abstract geometry or a mysteriously awry pixel graphic from a game of tetris is in fact a kind of calendar or diary in which the artist chronicles his presence in his Jüterbog studio, recording his creative phases and thereby his work on each painting. Each coloured square represents a day in the studio, whereas the white ones stand for the times when Matten Vogel was absent from the studio and therefore unable to paint squares on the picture. Thus, in this aptly named series the painter’s presence in itself becomes the subject of the works. The artist’s being present is marked on the canvas, and in the moment of painting the present becomes the past. Therefore the viewer is not only being made aware of the artist’s former presence but also of his former absence.

The series of scratch paintings (“Kratzer”) is entirely different. Each of these paintings seems to evoke the artist’s presence in a radical stance. However, they have emerged in the opposite temporal order from the one we are led to assume. The traces we see are not the result of quick scratches over the surface of the oil paint by means of a sharp object. In fact, in the beginning Matten Vogel draws on the canvas with pencils attached to his fingers. Photographs of these hand tools or tool hands document this procedure. Afterwards the artist applies oil paint on the canvas, leaving out the traces of his previous drawing, thus evoking the illusion of a damaged layer of paint. Before and after, the essential determinants of time, are cunningly being swapped. What can be seen is the opposite of what we assume: Instead of having been scratched quickly, the surface has been painted in a slow and precise manner.

During this work process, Vogel has smaller primed canvases mounted slantwise underneath the “Kratzer” paintings onto which the randomly falling drops of paint are dripping. These pictures titled “EddSmM – Entstehung durch die Schwerkraft meiner Malerei” [“Emergence through the gravity of my painting”] are images of pure temporality. Because apart from their size, the priming of the canvas and the chosen colour of each “Kratzer” painting, the essential determinant of their production is the amount of time the canvas is exposed to the possible dripping of the paint.

The “Üm” series focuses on another aspect of temporality, namely historicity. Each present time follows the previous one, becomes the past and as such a priming for the next present time. “Üm” (from übermalen, the German word for painting over) is the title of a participatory exhibition project presented by Matten Vogel in Klempenow castle in 2021. Vogel invites the public to draw or write with thick marker pens on pink canvasses. Every two days, the visitors’ interventions are painted over, and new comments by the public follow. This goes on until the process of painting and painting over comes to its planned end. What we see today is a layering of acts of writing and painting reacting to one another. While these acts were performed at different points in time they all have added to the present result, thus illustrating the present as a palimpsest of the past.

The attack of the present on the past happens in the “Ür Frustrationen”. “Ür” stands for “überrollen”, which means rolling over something. Older works by Matten Vogel showing geometrical shapes arranged in constructivist precision serve as a starting point. Under the impression of the Russian invasion of Ukraine the artist vents his frustration about this violent war of aggression happening in Europe. He takes a paint roller and applies large rough patches of oil paint over the rectangles, rhombi and squares which had been floating in a well-balanced ratio. Matten Vogel’s act of over-painting is not just a privatistic expression of his anger and frustration. By rolling over his constructivist compositions in such a rough manner, he uses layers of paint to re-enact what has been happening in Eastern Europe: A culture being steamrolled.

In the pandemic phase, Matten Vogel has created works which not only have a high aes-thetic appeal in their minimalist conceptualism, but also offer us plenty of philosophical fodder as pictorial reflections on dimensions of temporality. In this, by the way, he is not unlike his companion Hannes Malte Mahler, who lets us participate in his reflections on time in the series “Daily Performances”. But that’s for another time.

Stefan Becker